Räsänen, Martti

Martti Räsänen (June 25, 1893 – September 7, 1976)

Participation:

  • 2nd Meeting, 1959
  • 3rd Meeting, 1960 (scheduled, but could not participate)
  • 6th Meeting, 1963
  • 9th Meeting, 1966

 

MARTTI RÄSÄNEN
25.6.1893 — 7.9.1976

Am 7. September 1976 verstarb der Emeritus für Türkische Philologie an der Universität Helsinki, Professor Dr. Arvo Martti Oktavianus Räsänen im Al­ter von 83 Jahren in Helsinki.

Martti Räsänen war ursprünglich kein Turkologe, seiner Grundausbildung nach war er Fennist und Finnougrist, ein Schüler der Universität Helsinki.

Aus dem Bereich der finnischen und der finnisch-ugrischen Sprachen hat er im Laufe der Jahrzehnte auch mehrere verdienstvolle Untersuchungen publi­ziert. Auf den Wege über die Finnougristik wurde er zu einem Turkologen.

Drei seiner akademischen Lehrer waren aktive Forscher des Tscheremissi-schen und zwei von ihnen – G.J. Ramstedt und Heikki Paasonen – ausserdem gute Kenner der Türksprachen. Man hatte schon lange gewusst, dass das Tscheremissische reich ist an Lehnwörtern türkischer Herkunft, die aus verschiedener Zeit stammen, doch waren sie noch nicht eingehend unter­sucht worden. Mit dieser Aufgabe wurde der 22jährige Magister Räsänen be­traut. Die Finnisch-ugrische Gesellschaft schickte ihn als Stipendiaten in die Wohngebiete der Tscheremissen, Tschuwaschen und Tataren. Er hielt die Möglichkeit, i.J. 1915-1917 vier Semester an der berühmten Universi­tät von Kasan zu studieren; und gleichzeitig sammelte er Material aus der gesprochenen Sprache der genannten Volksstämme. Nach einigen Jahren er­schienen dann als Ergebnis fleissiger Arbeit zwei grundlegende Abhandlun­gen: “Die tschuwassischen lehnwörter im tscheremissischen” (1920) und “Die tatarischen lehnwörter im tscheremissischen” (1923) – insgesamt 390 Seiten. Vor allem die gründliche Darstellung Räsänens über die tschuwa­schischen Lehnwörter ist noch immer von besonderer Wichtigkeit für die Klärung des eigenartigen Sprachenkonglomerats am grossen Wolgaknie. Ein sichtbarer Beweis für die permanente Aktualität und Brauchbarkeit des Buches ist z.B., dass in der “Uralic and Altaic Series” der Indiana University noch i.J. 1968 ein von R. Krueger redigiertes detailliertes Wörterverzeichnis zu Räsänens Buch erschien.

Während der Jahre 1922–1932 unternahm Räsänen zahlreiche Auslandsreisen. Seine Studien und seine wissenschaftlichen Untersuchungen führten ihn u. a. an die Universitäten Leipzig, Budapest, Berlin und Paris. Am ertrag­reichsten waren jedoch zwei lange Reisen zwecks Forschung und Arbeit im Terrain nach der Türkei. Im J. 1925 sammelte er sprachwissenschaftliches Material, speziell Volkslieder, an der Küste des Schwarzen Meeres von Trabzon bis in die Nähe der kaukasischen Grenze. Sehr rasch – schon im J. 1926 — erschien im Journal der Finnisch-ugrischen Gesellschaft, im Band 41, “Eine Sammlung von māni-liedern aus Anatolien”. Hierin sind 290 ty­pische vierzeilige Lieder enthalten. Auf derselben Reise gesammelte, teilweise längere Volkslieder aus dem Nordosten der Türkei veröffentlich­te er noch in Band IV der Serie “Studia Orientalia” im J. 1931 unter dem Titel “Chansons populaires turques du Nord-Est de l’Anatolie”. Diese Veröffentlichung enthält auch einen Überblick über die lautlichen Beson­derheiten der in Frage stehenden Volksdialekte. Seine von dieser Reise stammenden lexikalischen Aufzeichnungen hat er nicht selbst veröffent­licht, was auch für jenes Material gilt, das er aus der kaukasischen Sprache Lazi bzw. Zani im Marktflecken Hopa gesammelt hatte.

Im August 1931 kam Räsänen erneut als finnischer Stipendiat nach der Türkei; diesmal blieb er über ein Jahr und erforschte vor allem die mangel­haft bekannte Volkssprache von Mittel-Anatolien und sammelte authenti­sche, zuverlässige Sprachproben, diesmal speziell Prosatexte, Die Ausbeu­te war reich. Den überwiegenden Teil veröffentlichte er als “Türkische Sprachproben aus Mittel-Anatolien I-IV” (Studia Orientalia V, VI, VIII, X; 1933-1942). Er hat insgesamt beinahe 600 Seiten anatolische Dialekt­texte gesammelt, mit einer relativ genauen phonetischen Transkription versehen, übersetzt und publiziert. Diese Lieder, Märchen und Geschichten sind gesammelt worden ohne moderne technische Hilfsmittel; gute Sprachkenntnisse und ein genaues Ohr waren neben Papier und Stift Räsänens ein­ziges Rüstzeug. Der Wortschatz seiner Sprachproben müsste zusammenge­stellt werden zu einem Dialektwörterbuch, wobei auch seine verhältnismäs­sig umfangreichen lexikalischen Aufzeichnungen aus Anatolien nicht zu vergessen wären.

Es ist in diesem Rahmen nicht angebracht, das schriftliche Schaffen von Prof. Räsänen detailliert vorzustellen; in zwei ihm gewidmeten Fest­schriften (1953 und 1963) findet man dies registriert (Studia Orientalia 19 und 28). Allein die Zahl seiner wissenschaftlichen Artikel beträgt über hundert; gedruckt sind sie ausser in Helsinki u.a. in Berlin, Wies­baden, Tübingen, Heidelberg, Haag, Budapest, Prag, Warschau, Moskau, Istanbul und Baku. Die Untersuchungen gelten in der Hauptsache der Ety­mologie. Ihr Autor war ein unbedingter Vertreter der Linie “Wörter und Sachen”. Neben rein lauthistorischen Fragen interessierte er sich noch besonders für die Ausstrahlung des kulturellen Wortschatzes der sog. Wolgabolgaren, der Vorväter der heutigen Tschuwaschen, in der Wikinger-Zeit nach Westen und Nordwesten, bis hin nach Finnland und Skandinavien. Ferner klärte er die Termini im Bereich von Mythologie und Glaubensvor­stellungen der verschiedenen Sprachen, ja sogar der Onomastik.

Es ist durchaus verständlich, dass er der vielseitige Kenner der uralischen und altaischen Sprachen direkt als seine Pflicht ansah, seine An­sicht über die mögliche Urverwandtschaft jener Sprachgemeinschaften zu äussern, d.h. über die sog. ural-altaische Hypothese, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jh. die Wissenschaftler erregte und anspornte. Im Gegensatz zu den meisten anderen finnischen Forschern trat Räsänen mutig für die Urverwandtschaft ein, welcher Anschauung sich heute immer mehr vor allem ausländische Fachleute anschliessen. Bei der Klärung dieses Problems hat man auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung bemüht; Räsänen aber meinte, die ural-altaische Verwandtschaft sei bereits mittels ein­facher Addition zu beweisen.

Als Martti Räsänen nach dem zweiten Weltkrieg schliesslich die Möglich­keit hatte, sich mehr seiner Forschungsarbeit zu widmen, konnte er an die Verwirklichung seines hauptsächlichen Planes gehen, die Abfassung vergleichender Gesamtdarstellungen über die türkische Sprachgruppe. I.J. 1949 erschienen die “Materialien zur Lautgeschichte der türkischen Sprachen” (Studia Orientalia 15), das erste kompetente Handbuch seiner Art. Die sowjetischen Turkologen fanden die Arbeit derart bemerkenswert, dass i.J. 1955 eine russische Übersetzung erschien. Ebenso bescheiden wie bei seiner Lautgeschichte verfuhr Prof. Räsänen auch hinsichtlich des Titels seiner vergleichenden Morphologie, die er “Materialien zur Morphologie der türkischen Sprachen” betitelte (1957; Studia Orientalia 21).

Martti Räsänen veröffentlichte seine verdienstreichen Handbücher in sei­ner produktiven Zeit als Hochschullehrer. Als solcher diente er der Uni­versität Helsinki fast vier Jahrzehnte. Zum Dozenten für Türkische Phi­lologie wurde er 1926 ernannt, 1944 zum ausserordentlichen Professor des­selben Faches. Räsänen war der erste und vorläufig einzige Professor für Türkische Philologie in Finnland. Die türkische Sprache ist allerdings als Teilbereich der Orientalischen Literatur an der Universität Helsinki schon weit über hundert Jahre gelehrt worden. Zwar war die Turkologie hier nie ein überlaufenes Fach mit vielen Studenten, doch hat sie stets eine treue Anhängerschar gehabt.

Die Emeritierung im J. 1961 bedeutete für Prof. Räsänen nicht den Abschied von der Wissenschaft, sondern die nunmehrige Konzentration auf die ei­gentliche Synthese seiner langen Lebensarbeit, auf sein baš kitap, sein Hauptwerk. Der “Versuch eines etymologischen Wörterbuchs der Türksprachen” (Lexica Societatis Fenno-Ugricae XVII) erschien im J. 1969 im Druck und umfasst 533 grosse, zweispaltige Seiten. Wieder handelte es sich um eine Pioniersarbeit, die sich über Jahrzehnte hinaus erstreckt hatte. Im Lau­fe dieser langen Zeit nahmen die Kräfte des betagten Forschers schon ab, so dass das Endergebnis der Arbeit nicht ganz jenem Ideal entsprach, das ihm ursprünglich vorgeschwebt hatte. Gesondert veröffentlicht wurde 1971 das dazugehörige, 136 Seiten umfassende Wortregister, angefertigt von seinem Schüler und Mitarbeiter István Kecskeméti. – Im Vorwort zu seinem Wörterbuch schreibt Räsänen u.a.

“Es muss erwähnt werden, dass man sich augenblicklich auch ander­wärts mit der Herkunft des Wortschatzes der türkischen Sprachen in Buchform beschäftigt. In der Arbeitsweise aber besteht ein grosser Unterschied. Während es anderwärts gut ausgerüstet Institute mit einer grossen Schar von Wissenschaftlern und Mitarbeitern gibt, wagte ich es, ohne Unterstützung durch ein wissenschaftliches In­stitut, ohne einen Assistenten mit genügender Ausbildung, dieses Buch im Alleingang zu schreiben. Ich musste mein Thema einschrän­ken, daher auch das Wort ‘Versuch’ im Titel.”

Martti Räsänens langfristige, bahnbrechende Forscherarbeit führte zur verdienten internationalen Anerkennung. Erwähnt sei, dass er Mitglied der Finnischen Akademie der Wissenschaften und der Dänischen Königlichen Akademie der Wissenschaften war. Im J. 1959 wurde er zum Ehrenpräsidenten der Permanent International Altaistic Conference (PIAC) ernannt und im J. 1967 erhielt er die Goldmedaille der Indiana University in Anerkennung seiner grossen Leistungen auf dem Gebiet der Altaistik. In Verbindung mit den Feierlichkeiten anlässlich des 50jährigen Bestehens der Republik erhielt er i.J. 1973 ein Ehrendiplom von der türkischen Regierung über­reicht. – Natürlich freute sich Martti Räsänen über die Anerkennung, die seiner Arbeit zuteil wurde, doch einer seiner dominierenden Charakter­züge war die Bescheidenheit. Daneben sind in erster Linie auch die Freundlichkeit und die Hilfsbereitschaft z.B. gegenüber seinen Schülern zu nen­nen. Charakteristisch für ihn waren ferner Strebsamkeit und finnischer Eigensinn. Er besass einen treuen Freundeskreis, war gern in Gesellschaft, verstand Humor und hatte welchen.

Am 18. September wurde Martti Räsänen auf dem Nördlichen Friedhof von Hel­sinki beigesetzt. Zu der Beerdigung waren ausser den Verwandten nur eini­ge wenige der nächsten Freunde eingeladen worden. Als einzigen ausländischen Gast hatten die Angehörigen von Räsänen Prof. Sâdeddin Buluç ge­beten. Am Grabe überbrachte er den letzten Gruss von den türkischen Kollegen.

Aulis J. Joki

(Source: Permanent International Altaistic Conference Newsletter No. 11, February, 1978, pp. 3–6)